HERMES 2022 – Neuerungen im Überblick
17. Mai 2023
Am 1. April 2023 hat HERMES 2022 das bisherige HERMES abgelöst. Im Interview mit Julia Heumos sprechen wir über Chancen und Herausforderungen, aber vor allem darum, was die Theorie für die Praxis und der Projektalltag bedeutet.
Die wichtigsten Unterschiede zwischen HERMES 2022 und HERMES 5.1 haben wir in einem Factsheet für Sie zusammengefasst.
Julia, du hast jahrelange Erfahrung im Projektmanagement und bist derzeit vorwiegend in der öffentlichen Verwaltung tätig und damit auch mit HERMES bestens vertraut. Wie bewertest du die Veränderung und was ist jetzt in der Praxis wirklich anders?
Prinzipiell besteht bei jedem Framework immer ein Unterschied zur Praxis, weil die Theorie sehr stilisiert ist und versucht, den Anwender:innen für jeden erdenklichen Fall die bestmögliche Reaktionsfähigkeit zu gewährleisten. Aus diesem Grund wird einem bei HERMES – sowohl in der Version 5.1 wie auch 2022 – zu jedem Szenario möglichst viel Dokumentationen an die Hand gegeben, an der man sich entlanghangeln kann. Damit weiss man im Idealfall, wie die Projektphasen aussehen sollen, welche Rollen zu involvieren sind und welche Dokumente, also Arbeitspakete nacheinander anstehen. Am Ende hat man, gemäss Theorie, alles lückenlos dokumentiert, alle notwendigen Entscheidungen hervorgerufen, die Stakeholder mitgenommen und sich zu jedem Zeitpunkt das OK geholt, dass das Projekt weiterhin Bestand hat.
In der Praxis ist das nicht eins zu eins anwendbar, beispielsweise durch die eingeschränkte Verfügbarkeit verschiedener Gremien oder auch die Zusammensetzung dieser Gremien. Hinzu kommt, dass die Erstellung der Dokumente auch mit einem hohen Aufwand verbunden ist. Sie sind deshalb eher als Leitfaden zu verstehen. Als Projektleiterin bin ich immer selbst in der Verantwortung, mein Projekt je nach Grösse und Komplexität effizient abzuarbeiten und den Dokumentationsaufwand an meinen spezifischen Anwendungsfall anzupassen – also die Balance zu halten zwischen so viel wie möglich, aber gleichzeitig auch nur soviel wie nötig. Gerade bei kurzfristigen Projekten können umfangreiche Dokumentationen eher hinderlich sein. Dann ist es wichtig, dass man sich auf die wichtigen und richtigen Dokumente und Entscheidungen stützt.
Drei Quick Facts: Welche positiven Neuerungen bringt HERMES 2022 mit sich?
Was HERMES gut macht und in der Version 2022 noch besser geworden ist, sind die Rollenbeschreibungen. Das Framework beschreibt sehr viele Rolle und spezifiziert diese auch ziemlich genau. Das gibt insbesondere unerfahrenen Projektleiter:innen einen Leitfaden an die Hand, um das Projekt erfolgreich abzuschliessen.
Dann ist die Liste der Szenarien kürzer geworden, deckt aber auch Variationen ab. Insbesondere die Unterscheidung zwischen Entwicklung und Adaption ist ein wichtiger Schritt, der der Praxis näherkommt, weil die Erstentwicklung deutlich komplexer ist als die Adaption beziehungsweise der Einkauf von Standardlösungen.
Ebenfalls positiv ist, dass Sizing und Tailoring explizit aufgegriffen wird. Ich denke auch, dass das einmal gesagt werden musste, denn im Grunde galt das sowieso schon. Komplette Arbeitspakete und Dokumente eins zu eins umzusetzen, ist in der Praxis meist gar nicht möglich. Dass HERMES 2022 jetzt nochmal betont, dass das Szenario an die Komplexität angepasst werden darf und soll, ist eine wichtige Message.
Julia Heumos
Wo liegen aktuell die grössten Herausforderungen und Schwierigkeiten in der Umsetzung von HERMES 2022?
Was vom Trend her immer mehr aufgekommen ist, ist die agile Arbeitsweise. Diese gab es schon früher, man hat sie nur anders benannt. Was ich damit meine, ist dieses: «Wir haben keinen festen Plan, bei dem wir genau wissen, dass zuerst A gemacht werden muss, B dann darauf aufbaut und so weiter.» Mittlerweile ist das oft nicht mehr gut greifbar. Die meisten Projektmanagement-Frameworks sind dagegen im Vergleich zu dem, was man vorab planen kann, relativ starr. Diese Starrlinigkeit einerseits und die heutzutage vorherrschende Art der Entwicklung andererseits passen nicht mehr zusammen. Das, in Kombination mit dem Mythos, der sich hartnäckig hält, man müsse ein Projektmanagement-Framework immer eins zu eins anwenden, kreiert ein Spannungsfeld, dabei ist das so gar nicht nötig. Man darf – und soll – die Rollen und den Dokumentationsumfang sinnvoll an die spezifischen Bedürfnisse des jeweiligen Projekts anpassen.
Was auch für HERMES 2022 in der Praxis die grosse Herausforderung wird, ist die Tatsache, dass Entwicklerteams im Agilen unabhängig arbeiten. Das bedeutet, es gibt ein Projektziel, das bekannt ist und erreicht werden soll, beispielsweise die Implementierung einer Software. Der Weg zu diesem Ziel ist aber nicht bekannt und wird vom Projektteam iterativ oder eben agil von Sprint zu Sprint festgelegt. In der Regel dauert ein Sprint vier Wochen. Das Entwicklerteam legt eigenständig fest, was es innerhalb dieses Intervalls erreichen kann, was das Projekt dem Endziel einen Schritt näherbringt. Es definiert also ein Zwischenziel. Dieses Ziel kann aber nur erreicht werden, wenn das Team während dieser vier Wochen kontinuierlich daran arbeiten kann. In der Praxis sind Teammitglieder aber meist für mehrere Projekte gleichzeitig tätig und haben darüber hinaus noch ihr Daily Business. Die Linienorganisation, die in den meisten Organisationen vorherrscht, unterstützt die Effizienz von Projekten meist nur bedingt, beispielsweise indem Vorgesetzte zusätzliche Anforderungen stellen, andere Prioritäten setzen – oder auch ganz klassisch, indem der Urlaub nur mit dem Vorgesetzten und nicht mit dem Projektteam abgestimmt wird. Damit die Theorie in der Praxis wirklich funktioniert, bräuchte es eine Matrixorganisation und zusammengesetzte Teams, die wirklich fokussiert an nur einem oder maximal zwei Projekten arbeiten.
Eine weitere Herausforderung ist, dass Product Owner aus Scrum bzw. Anwendervertreter aus HERMES nicht unbedingt in ihrer Rolle ausgebildet sind. In ihrer Funktion sind sie dafür verantwortlich, den kompletten Backlog an spezifizierten Anforderungen zu kanalisierten, sodass das Entwicklerteam strukturiert an den Zwischenergebnissen arbeiten kann. Oft spielen aber gerade in der öffentlichen Verwaltung noch Regularien mit hinein oder eben, wie vorhin erwähnt, die Linienorganisation. Der Product Owner ist aber nicht gesamtbildlich unterwegs, sprich, er hat vor Allem die jeweiligen Sprints im Blick, nicht das ganze Projekt. Auch was darum herum politisch passiert, liegt gemäss Rollendefinition nicht in der Verantwortung des Product Owners. Theoretisch ist der Scrum Master zwar dafür verantwortlich, dem Team den Rücken freizuhalten, sodass es reibungslos arbeiten kann, aber auch hier liegt keine Verantwortlichkeit für das vor, was übergeordnet in der Organisation passiert. HERMES 2022 hat dieses Problem gut gelöst, indem der Anwendervertreter die Hand über dem Entwicklerteam hat, während der Projektleiter den übergeordneten Blick behält und sich genau um diese (politischen) Themen kümmert, aber auch regulatorischen Aspekte, Abhängigkeiten, Timelines und so weiter berücksichtigt.
Du hast es bereits angesprochen. Die Theorie gibt vor, dass der Projektleiter während der Umsetzungsphase nicht in das Entwicklerteam eingreifen darf, weil dies in der Verantwortung des Anwendervertreters liegt, der wiederum an den Projektleiter rapportiert. Wie kann das in der Praxis funktionieren?
Ich kann mir vorstellen, dass das sogar ganz gut funktioniert, wenn man das Profil des Anwendervertreters schärft und ganz klassisch zu Beginn des Projekts die Rollen und Verantwortlichkeiten festlegt, damit wirklich jede:r weiss, was von ihm:ihr erwartet wird. Ähnlich wie in einem Setup mit Projektleitung und Teilprojektleitung ist der Anwendervertreter:in dann quasi Teilprojektleiter:in für die Entwicklung mit Ergebnisverantwortung, der den Einsatz von Ressourcen plant und Risiken rechtzeitig an die Projektleitung zurückgibt. Das verlangt aber, dass die Projektleitung Vertrauen in den:die Anwendervertreter:in hat und diese:r wirklich alles kommuniziert, was für das Projekt ein Problem sein könnte, und das auch rechtzeitig. In der Praxis fällt es, dadurch dass sie die Gesamtverantwortung tragen, aber vielen Projektleiter:innen immens schwer, Verantwortung abzugeben, obwohl sie das sowieso lernen sollten.
In der Umsetzung wird das also eine Herausforderung, ich glaube aber tatsächlich, dass es gar nicht so abwegig ist, da der:die Anwendervertreter:in aus der Theorie heraus viel besser versteht, was denn die Anforderungen der Anwender:innen sind und diese dem Entwicklerteam direkt besser vermitteln kann. Eine weitere Schwierigkeit ist hier aber, wenn die Projektleitung wirklich strikt nicht eingreifen darf, dass der:die Anwendervertreter:in auch über das notwendige Know-how, das Durchsetzungsvermögen und die Kapazität verfügen muss, das zu tun. Das ist in der Praxis nicht immer gegeben bzw. wird im Arbeitsalltag von dieser Funktion oft auch nicht verlangt.
Dein letztes Projekt für eine öffentliche Verwaltung hast du agil nach HERMES durchgeführt. Wie sah die Projektorganisation aus?
Der Transparenz wegen: Wir haben das Projekt unter HERMES 5.1 durchgeführt, haben dabei aber ein Setup gewählt, das eigentlich genau dem entspricht, was auch unter HERMES 2022 empfohlen wird. Die Initialisierungsphase und die Konzeption haben wir im klassischen Framework aufgezogen, die Umsetzung aber agil durchgeführt. Sprich, wir hatten einen hybriden Ansatz. Bereits zu Projektbeginn kannten wir unsere Phasen und den übergeordneten Zeitrahmen. Wir wussten, welche Entscheide wir vorher brauchen, damit das Projekt in die richtige Richtung geht bzw. damit genug Zeit und Budget vorhanden sind. Diese Gedankengänge, durchgeführte Studien und die zu erreichenden Ziele haben wir entsprechend dokumentiert. Während der Umsetzung haben wir Sprints im Wochenrhythmus durchgeführt und unsere Applikation iterativ weiterentwickelt, diese Zwischenergebnisse evaluiert und dann auf Basis dessen den nächsten Sprint gestartet. Dadurch konnten wie immer schnell etwas liefern, was ja auch ein Vorteil der agilen Arbeitsweise ist.
Was möchtest du denjenigen mitgeben, die gerade dabei sind auf HERMES 2022 umzustellen?
Zum einen, es muss nicht alles agil gemacht werden. Nur weil der Begriff in aller Mund ist und man dadurch vermeintlich schneller Ergebnisse liefert, macht das nicht für jedes Projekt Sinn. Man darf sich nicht in etwas hineindrängen lassen, sondern sollte immer hinterfragen, welche Vorgehensweise für den Anwendungsfall der richtige ist. Dabei geht es um Charakteristika wie die Komplexität des Ergebnisses, aber auch die Geschwindigkeit, in der Zwischenergebnisse geliefert werden sollten. (Mehr zur Initialisierungsphase und zu HERMES für Projekte unterschiedlicher Grösse)
Zum anderen möchte ich allen ans Herz legen, dass man sich darauf einlässt. Ich denke – und bekomme das im Übrigen auch von Kundenseite so bestätigt – dass das neue HERMES wirklich viele gute Ansätze bringt, bei denen die Praxis besser involviert wird wie bisher. Ich denke auch, man darf sich nicht davon abschrecken lassen, dass nun eine grössere Veränderung auf einen zukommt, bei der man im ersten Moment meint, dass die Umstellung sich kompliziert gestalten könnte. Das ist meist das erste Vorurteil, dem man bei grossen Neuerungen begegnet. Man darf aber nie vergessen, dass ein Framework keine Vorgabe ist, sondern eher eine Richtlinie. Das heisst: Zieh dir das Beste heraus, was für dich in der Praxis anwendbar ist, und hangle dich daran entlang. Dann hast du mit dem Update auf HERMES 2022 viel gewonnen.
Vielen Dank für deine Zeit und diesen aufschlussreichen Einblick in die Praxis.
Autorin
Julia Heumos
Julias Beratungsschwerpunkte liegen darin, wirksame Organisationen zu etablieren, High-Performance-Teams zu entwickeln und ihre Ergebnisorientierung zu stärken. Damit führt sie Programme und Projekte zum Erfolg und treibt die Digitale Transformation ihrer Kunden voran.